Samstag, 12. September 2015

Christoph - eine Variante

Zeichnung: Otto Hopp
Christoph ist verschwunden. Das würde man sich zuflüstern. Hinter vorgehaltener Hand und mit einem Seitenblick auf die arme Katharina.
Er fragte sich schon lange, wie es wäre, zu verschwinden. Welches Gefühl sich wohl einstellte, wenn man sich plötzlich von der Welt löste? Wer würde ihn vermissen?

Als er sich zum ersten Mal gewünscht hatte zu verschwinden, war er fünf Jahre alt gewesen, saß vor dem Fernseher und folgte einer Show, in der ein Zauberer auftrat. Seine Eltern lachten und bezeichneten den Mann mit schwarzem Zylinder und Frack als Stümper, der seinen Job nicht versteht. Doch Christoph war voller Bewunderung und wollte sich fortzaubern können wie dieser Mann am Ende der Show.

Später veränderte sich das Verschwinden-Wollen. In der Schule war der Wunsch nach einer Tarnkappe in den Fächern Mathematik, Physik, Chemie, Latein und Sport mit jedem Jahr drängender geworden.
Die Zeit der Mädchen überschnitt die Phase der Tarnkappe. Kam ihm eines dieser undurchschaubaren, leichtfüßigen Wesen unverhofft zu nahe, hoffte er inständig, der Boden unter seinen zu großen Füßen, die an dürren Beinen baumelten, möge sich öffnen, ihn mitsamt seines glühenden Gesichts verschlingen.
Mit dem Abstand der Jahre und damit einhergehender Weitsichtigkeit bemerkte er, wie unsinnig seine Wünsche gewesen waren. Wegläufer nannte er sich im Nachhinein. Das war in den Jahren, in denen er sich für unbesiegbar hielt und meinte, die Welt hätte allein auf ihn gewartet.
Aber auch diese Phase war vorübergegangen und die Idee, von einem Moment zum nächsten zu verschwinden, hatte erneut Besitz von ihm ergriffen. Zuerst nur vage und selten, dann oft und konkret. Und das hatte bestimmt nichts mit Katharina zu tun, auch wenn das jeder mutmaßen würde. Am ehesten sie selbst.
Dieses Mal hatte er das Verschwinden gewagt, allerdings ohne es zu planen, mehr intuitiv. So würde Katharina es nennen. Doch Katharina war Vergangenheit. Alles war Vergangenheit, sogar er selbst. Oder vielmehr das Selbst, dass er noch gewesen war, als er am Morgen die Haustür hinter sich zugezogen hatte.

Der Weg zur Arbeit war immer gleich und begann um 6.45 Uhr, auch an diesem besonderen Morgen, von dem noch niemand wusste, wie besonders er werden würde. Vier Meter Waschbeton bis zum Asphalt der Straße, links abbiegen, den Bürgersteig entlang. Umhüllt vom Hupen, Motorengetöse, Rufen, Schimpfen, Hundegebell. Umhüllt und zusammengehalten.
Kurz bevor er den Bahnhof erreichte, sah er, dass sich die Türen des Busses, seines Busses, mit einem Zischen schlossen. Der Motor heulte auf und schon fädelte sich das Fahrzeug in den fließenden Verkehr, entfernte sich brummend wie ein Insekt, das er gerade von seiner Haut gewedelt hatte.
Verdutzt blickte er dem Bus hinterher, warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie stehen geblieben sein musste. Es war exakt 6.45 Uhr und das konnte nicht sein, denn um exakt 6.45 Uhr war er von zu Hause losgegangen. Wie jeden Morgen.
Natürlich hätte er im Büro anrufen können oder bei Katharina, die sicher noch zu Hause war, weil sie später und mit dem Auto zur Arbeit fuhr. Stattdessen stand er still, die Aktentasche mit den Broten und dem Apfel in der Hand.
Er ließ die Tasche fallen. Der schmatzende Aufprall des Leders auf den Asphalt legte sich wie eine Patina auf seine Wirbelsäule, klatschte auf seine Schläfen. Er fasste sich ins Kreuz wie einer, der einen Stich in den Bandscheiben spürt, tastete die unteren Wirbel hinauf und herab, ließ die Fingerkuppen kreisen und wurde bleich. Lag da nicht eine blättrige Schicht auf ihm, sogar durch den Stoff seines Hemdes spürbar? Vorsichtig zog er am Oberhemd, glitt mit der Hand darunter, bekam einen Zipfel zu fassen, zog und zerrte an den Lappen, die ihn, fest miteinander verbunden, einhüllten.
War ihm nicht gerade heute Morgen der Gedanke gekommen, er würde von Geräuschen zusammengehalten? Konnte das möglich sein? Legte sich das Quietschen von Reifen, das Schreien fremder Kinder, das Dröhnen von Presslufthämmern auf ihn? Seit Jahren? Wohlmöglich schon sein Leben lang? Und hatte er das nicht schon längst geahnt?
Christoph wankte zur Bank im Wartehäuschen. Dieser Mantel, genäht aus Lauten und Tönen, Geraschel und Geprassel, aus Wimmern und Kreischen wog schwer. Das spürte er jetzt und auch, dass er ihn nicht mehr lange würde tragen können. Die Wirbel in seinem Nacken knirschten, als er den Kopf drehte und sah, wie viele Menschen gebeugt über den Asphalt schlichen. Nur die Kinder hopsten noch an den Händen ihrer Mütter, aber schon die älteren mit den Schultaschen auf den Schultern bewegten sich langsam und schwerfällig.
Er klopfte seine Arme ab, dann den Bauch, die Brust, schließlich die Oberschenkel und Knie, die Waden. Da war kein Gefühl. Taub die Gliedmaßen, erdrückt und erstickt. Nicht einmal sein Kneifen in Wangen und Ohrmuschel löste Schmerz aus. Die verfluchten Schichten verhinderten jedes Durchkommen!
Sein eigenes Seufzen erklang von weit her und er lehnte sich zurück, schloss die Augen.

Nur ein paar Minuten später klimperten Absätze. Christoph hörte die Leichtigkeit eines Schritts, das Flattern eines Rocks. Verwirrt riss er die Augen auf.
»Sind Sie nicht von hier?«, wagte er zu fragen, als die junge Frau neben ihm stehen blieb und den Fahrplan studierte.
»Nein, ich bin vom Meer.« Sie lachte und fuhr sich durchs Haar. »Sieht man mir das an?«
»Ja.«
»Und warum?«
»Sie wirken wie ein Schmetterling neben fetten Raupenpuppen.«
Wieder lachte sie. »Das ist doch eine gute Nachricht. Aus Raupen werden Schmetterlinge, zumindest aus den klugen.« Ihr Haar flatterte, als sie den Kopf wand und einem kirschroten Bus entgegensah, der die Haltestelle anfuhr, vor dem Wartehäuschen ausrollte.
»Fahren Sie mit diesem Bus nach Hause, zurück ans Meer?«, fragte Christoph und stand auf, weil er die Antwort längst wusste.

Im Inneren des Busses sog er die Luft ein. Frisch und süß ließ sie sich atmen und leichter, als in den Straßen der Stadt. Die Passagiere, die nicht einmal die Hälfte der Sitze belegten, lachten miteinander. Christopf saß allein, weil er es so wollte. Er mochte nicht reden und er hatte bemerkt, dass die erste Schicht auf seinem Körper Blasen warf. Das musste man niemand anderem zumuten, fand er. Tatsächlich brachen die Pusteln auf und bröckelten wie Farbreste auf den erdbeerfarbenen Sitz. Christoph fegte die Krümel, Brocken und Splitter mit dem Handrücken auf den Boden, der bald rund um seine Füße mit einem fleckigen Teppich seiner Schichten belegt war.
Dann kam die Leichtigkeit. Er lachte über einen Satzfetzen, der an ihm vorbeiwehte, zwinkerte einer kichernden Alten zu, die sich an seinem Sitz vorbeischob. Christoph schälte sich.
Nach zwei Stunden steuerte der Busfahrer einen Rastplatz an und Christopf fühlte sich  derart befreit, dass er meinte, Flugversuche unternehmen zu können. Auf einem verbrannten Stück Gras neben dem Toilettenhäuschen hopste er ein wenig. Auf beiden Beinen, dann auf einem, breitete die Arme aus und ja, beinahe lösten sich die Füße ganz und gar vom Boden.
Schließlich ließ er sich auf die gelben Halme fallen, pflückte den einzigen Löwenzahn weit und breit und blies in die weiße Kugel. Kleine weiße Schirmchen lösten sich, wirbelten davon. Er hätte Katharina mitnehmen können. Sie trug ebenfalls an ihren Schichten, auch wenn sie das nicht wusste. Er jedoch hatte sie gesehen. Lange schon, bevor er überhaupt von der Existenz seines eigenen Ballastes wusste. Der weniger wurde, immer weniger.

Vom Schaukeln des Busses musste er eingenickt sein, denn als er die Augen öffnete, lag weißer Sand vor ihm. In der Nähe rauschte das Meer. Von den anderen Fahrgästen war niemand mehr zu sehen. Nur der Busfahrer hatte sich zu ihm umgedreht und lachte freundlich.
Christoph rappelte sich auf, stieg aus und winkte dem davonbrausenden Bus hinterher. Fedrig fühlte sich sein Körper an und auch sein Kopf lag nicht mehr schwer auf harten Schultern. Er sah an sich herab. Seine Arme waren weiß, als seien sie noch nie dem Licht ausgesetzt worden, durchsichtig beinahe. Beim Aneinanderreiben der Hände spürte er die Weichheit wie ein Nichts. Er strengte sich an, um in der beginnenden Dämmerung seine Umrisse erkennen zu können.
Hier und da hingen noch Fetzen an ihm, doch auch die würde er jetzt lösen. Christoph warf seine Arme in die Höhe, jauchzte, rannte los, riss sich das Hemd vom Oberkörper, schleuderte die Schuhe von sich und zerrte, am Wasser angelangt, an seinem Hosenbund. Das Meer empfing ihn kühl und er rang nach Luft. Doch dann schwamm ein Stück der Schicht auf dem Wasser davon und schon begann er, zu reiben und zu ziehen. Schließlich angelte er eine Muschel vom Grund und schabte mit der scharfen Kante über seine Haut. Das Wasser wurde tiefer, doch er tappte weiter, Schritt für Schritt und schrubbte.
Dann verlor er den Boden. Blickte auf seine Hände. Konnte sie nicht erkennen. Bewegte die Beine auf und ab, fühlte sich schwerelos. So leicht, dass er aufhörte, Widerstand zu leisten. Wurde getragen und würde sich nicht mehr anstrengen müssen.
Er dachte an Katharina.

»Sag mal, ist da nicht gerade noch ein Mann im Meer geschwommen?«
»Ja, einer von den Städtern, einer von denen, die immer so merkwürdig herumplantschen und mit sich selbst beschäftigt sind."
»Und wo ist der jetzt?«
»Na, er wird sich wahrscheinlich genauso aufgelöst haben wie alle anderen vor ihm.«
»Wie die Gespenster, diese Städter.«
»Wie Leute, die glauben, in jedem Kokon sei ein Schmetterling verborgen.«
»Was?«
»Ach nichts.«

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