Dienstag, 27. Oktober 2015

Blogparade Fluchtgeschichten

Auf der Seite  blog.litmuc.net/2015/10/19/blogparadefluchtgeschichten bekommt ihr Informationen zum Literaturfest München 2015 - Blogparade Fluchtgeschichten.

Und hier ist mein Beitrag:


Das weiße Tuch

Fast schon zu alt, um noch aufgeregt zu sein. Beinahe alle Situationen schon gemeistert. Und jetzt doch noch einmal der Schritt über eine neue Grenze, wenn auch zögernd. Doch sie wollte ihre Pflicht erfüllen, als Gemeindemitglied, als mitfühlender Mensch.
Was soll schon sein in einem Land voller Netze und doppelter Böden, dachte sie. Und dann war ihr, als bewege sich der Boden im Halbdunkel ihres engen Flurs. Ein strenger Blick in den Spiegel und ihre Hände waren wieder vollkommen ruhig, als sie den ersten der fünf dicken violetten Knöpfe durch das umsäumte Knopfloch schob, das Tuch um den Hals schlug und verknotete, den Hut mit fliederfarbenem Band auf die kurzen Locken drückte. Schade, sie wären nachher nicht mehr tuffig und weich, eher zerdrückt, vielleicht sogar etwas verklebt vom Schweiß, denn eigentlich war es zu warm für einen Hut. 18°C bestimmt. Frühling eben. Aber der Hut war neu, hatte nur 12,- Euro gekostet, weil die Kälte vorbei war und niemand ihn mehr wollte. Da hatte sie Anfang des Monats und übermütig zugeschlagen. Wie eine Katze, der ein Spatz direkt vor der Nase herumflattert.

Sie hätte zuerst die Schuhe binden sollen. Jetzt saß sie im Mantel - auch er war zu warm - auf ihrem Stuhl im Flur und mühte sich mit den Schnürsenkeln.
»Verdammt«, sagte sie leise. Alles war plötzlich im Weg, der Wollstoff des Mantels, das Tuch, dessen Zipfel ihr die Sicht auf die Füße versperrte, die Hutkrempe, die ihr in die Stirn gerutscht war. Ihr Herz klopfte. Vor Anstrengung. Oder war sie doch ein wenig aufgeregt? Wegen dieser Grenze?
Im Halbschatten des Spiegels sah sie ihr Gesicht, gerötet, etwas aufgequollen, vielleicht von dem Blut, das ihr gerade beim Bücken in den Kopf geschossen war. Immerhin, dann war sie ja noch quicklebendig. Sie lächelte, nur zur Probe, griff nach den Henkeln ihrer braunen Handtasche, knipste noch einmal den fleckig-silbernen Verschluss auf und tastete nach Taschentüchern, Brillenetui und Terminkalender. Der war neu und hatte einen Umschlag, der dem Leder einer teuren Aktentasche zum Verwechseln ähnlich sah. Der Aktentasche ihres jungen Nachbarn, der jeden Morgen mit einem schwarzen, teuer aussehenden Auto davonraste und immer erst nach acht Uhr abends zurückkehrte. Zu seiner Frau, die in der Zwischenzeit mindestens zehnmal die beiden Kinder angeschrien hatte. Aber die Tasche war schick und alles andere ging sie nichts an.
Nie zuvor hatte sie einen Terminkalender gebraucht. Ihr Gedächtnis hatte für sie allein hervorragend funktioniert. Doch jetzt hatte sie vielleicht bald eine Verantwortung und dafür, fand sie, brauchte sie einen Kalender. Um die Dinge, die bald in ihr Leben treten könnten und von Wichtigkeit waren, zu notieren.
Der Schlüssel rutschte ins Schloss. Sie drehte zweimal, rüttelte an der Klinke, verstaute den Schlüssel in einem weinroten Kunststoffetui und legte es in die Handtasche neben das Paket weißer Taschentücher. Normalerweise benutzte sie welche aus Stoff, gebügelt, gefaltet mit Blumen und Monogramm, sonntags mit gehäkelter Spitze. Heute hatte sie sich für Papier entschieden. Man wusste ja nie.
Sie lief die Treppe hinunter und war stolz über ihre nicht nachlassende Schnelligkeit. Bummelei mochte sie nicht, noch nie. Oder doch schon einmal, aber das zählte nicht, weil sie ein Kind gewesen war.
Ein Kind! Erschrocken hielt sie inne. Wenn sie ihr nun ein Kind gaben? Ein Blick auf die Uhr trieb sie weiter. Der Bus wartete nicht, auch nicht auf Damen kurz vor dem Altwerden.
Was sollte sie mit einem Kind tun, was mit ihm reden? Sie schnaufte, als sie an der Haltestelle ankam und versuchte, sich an ihre Kindheit zu erinnern. Die zehn Minuten, die sie im Häuschen auf der Bank wartete, die zwanzig Minuten, in denen sie sich rechts hinter dem Busfahrer an die Metallstange klammerte, um in den Kurven nicht von ihrem Sitzplatz geschleudert zu werden.

»Schön, dass Sie sich bereiterklären.« Die Frau rannte vor ihr her über einen schmalen Flur, eingerahmt von grünen Fliesen unter Neonröhrenlicht. Durch die Kälte.
Sie tastete sich an dem Grün entlang, ohne sich an diese Farbe erinnern zu können. Auch die Röhren mussten neu sein. Nur die Kälte war gleich.
»Wo sind denn die Leute alle?«
»Einige werden auf ihren Zimmern sein oder in der Stadt unterwegs. Die meisten sind aber auf einer Veranstaltung am Flussufer. Sie wissen doch, das Fest, das von der Organisation veranstaltet wird. Davon haben Sie sicher gehört.«
»Ja natürlich«, schwindelte sie und senkte den Kopf.
»Vielleicht gucken Sie sich erst einmal um und entscheiden später, ob Sie sich eher um ein Kind kümmern möchten oder um eine der jungen Mütter. Wie auch immer, wenn Sie Fragen haben, ...«
Als sie sich nach der Frau umdrehte, hatte der Flur sie längst wieder verschluckt.
Es war stickig im Raum. Trotz all der Kälte. Die schmalen Luken verweigerten jegliches Licht, das Freundlichkeit hätte verbreiten können. Sie nestelte an den dicken Knöpfen, zerrte den Schal vom Hals, riss den Hut herunter und fuhr sich durch das feuchte Haar. Ein Blick in die Glastür des Küchenbuffets bestätigte ihre Vermutung: Die zerdrückten Locken duckten sich auf ihrer Kopfhaut. Ihr Herz hämmerte, schmerzhaft und bis hinter die Stirn. Raus hier, dachte sie, raus aus diesem Loch, zurück an die frische Luft, sonst drehe ich durch!
»Hallo.«
Sie fuhr herum. Am Tisch saß ein Mann mit dunkler Haut, die Finger um ein Glas Tee geflochten.
»Was wollen Sie?« Warum war sie unfreundlich zu dem Fremden? Hier war sein Zuhause, nicht ihres. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber was würde der Mann dann denken? Dass sie sich fürchtete? Vielleicht vor der Fremdheit in ihm?
Er sah sie an, ein wenig erschrocken, dann nickte er ihr zu.
Sie sah auf ihren Mantel hinunter, den Hut, dessen Krempe sie ein wenig zerdrückt hatte, den Schal, der mit einem Ende auf dem Boden schleifte, als sie ein Stück zurückwich. »Immer war es kalt«, sagte sie und wusste die Tür hinter sich. Was erzählte sie da? Diese dummen, alten Geschichten wollte niemand hören. Noch nie wollte die jemand hören, am wenigsten sie selbst.
»Die Gemeinschaftsküche.« Ihr Blick wanderte. »Es ist lange her. Ich war noch ein Kind.« Was war nur in sie gefahren, dass sie so viel redete? Ihr rechter Fuß scharrte über die Fliesen. »Früher war hier Steinboden, der nackte Beton.«
Er nickte und schob den Stuhl neben sich zurück, aber sie schüttelte den Kopf. Der Mann verstand ja nichts, weder ihre Sprache noch das, was sie erlebt hatte, nach der Flucht. Und vorher und währenddessen. Obwohl er vielleicht Ähnliches durchlitten hatte, sonst säße er nicht hier.
Sie öffnete den angelaufenen Verschluss ihrer Tasche, tastete nach dem Paket mit den Tüchern, knetete es zwischen den Fingern, drückte es, bis die Hand schmerzte.
Der Mann schob seinen Stuhl zurück, holte ein Glas aus dem Buffet, schenkte aus einem Samowar dampfenden, dunklen Tee ein und goss kochendes Wasser dazu. Zögernd kam sie näher. Was sollte schon passieren?
»Ich hab‘ sie ja im Griff, diese alten Geschichten«, sagte sie, lächelte den Mann an und setzte sich auf die Kante des Stuhls. Als er ihr Mantel, Hut und Schal abnehmen wollte, schüttelte sie den Kopf, ordnete die Sachen auf ihrem Schoß, und er setzte sich wieder.
Erneut versuchte sie ein Lächeln, doch ein altes Zittern zog ihre Mundwinkel zum Kinn. Wo waren die Taschentücher? Nie waren welche da. Das war schon früher so gewesen, als sie noch gebummelt hatte und die Mutter sie ziehen musste, während es hinter ihnen krachte und blitzte und sie sich immer wieder mit dem Ärmel über die Augen wischen musste, um etwas sehen zu können.

Seine Hand weit neben ihrer malte Kreise auf die gelbe Kunststoffbeschichtung des Tisches, der früher braun und aus Holz gewesen war. Hier an dieser Stelle, an dem anderen Tisch hatten sie gesessen, Tag für Tag. Anfangs hatte die Mutter viel geweint, später nicht einmal mehr das. Diese Stille war unheimlich gewesen. Rundherum das Lachen und Reden, manchmal Geschrei, nur zwischen ihnen waren die Worte an irgendeiner Stelle steckengeblieben. Im Hals, im Brustkorb, so wie jetzt. Sie rang nach Luft und ein Krächzen entschlüpfte ihr.
Der Mann schob ein Taschentuch über die Tischplatte, eines aus weißem Baumwollstoff.
»Wie ein Film ist das. Als würde alles von vorn anfangen«, sagte sie und kannte ihre Stimme nicht.
Der Löffel klimperte zu laut gegen das Glas. Sie sah auf die rotierende dursichtig-braune Flüssigkeit und rührte weiter, rührte und rührte. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er trank. In kleinen Schlucken. In ihrem Hals steckte noch immer etwas. Wie das Stück Apfel im Märchen, dachte sie und ihr Stuhl kratzte über die Fliesen.
An der Tür drehte sie sich um. »Auf Wiedersehen.«
»Das würde mich freuen.«
Sie trat auf einen Zipfel ihres Tuchs. »Sie sprechen Deutsch?«
»Ja. Ich bin hier geboren.«
Ihr Blick durchmaß das Zimmer, doch er schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Haus, in Deutschland meine ich.«
»Was tun Sie hier?«
»Ich biete meine Hilfe an, übersetze, kümmere mich um Anträge, die Wohnungssuche.«
»Sie übersetzen eine afrikanische Sprache.«
Er lachte. »Nein. Ich kann nur englisch und ein bisschen französisch.«
»Entschuldigen Sie.«
»Was soll ich entschuldigen? Dass Sie mich für einen Flüchtling gehalten haben?«
»Nein. Ich weiß nicht.« Sie hielt sein Taschentuch in die Höhe. »Ich bringe es zurück. Nächste Woche.«
Er nickte und sie öffnete die Tür.

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